Das Bildnis einer Gesellschaft, deren Abglanz sich in einer dreckigen Pfütze spiegelt. Eine Gemeinschaft, die nicht fessellos sein darf, nicht zu Freidenkern stattdessen untergeordnet beschränkt werden soll. Intelektuelle und Kreative sind sie, dürfen es aber nicht sein. Die Faust des Staates ist stählern, seine Verpflechtung immens und unberechenbar. An der nächsten Ecke könnten sie auf dich warten. Observierung. Denunzierung. Sie, das KGB. Verbreitung von Lügen. Antisowjetischem. Dissidentendasein.
Sie sind eingesperrt wie ein Goldkehlchen im Käfig. Wollen ohne Einschränkungen singen, sich bilden, die Gedanken loslassen. Doch gesungen werden soll nur in den Verhören. Sie, das sind die Schulfreunde: Ilja, Sanja und Micha. Mit unterschiedlichen Talenten gesegnet. Rund um diese drei Lebensgeschichten baut Ljudmila Ulizkaja »Das grüne Zelt« auf.
Es ist nicht nur ein vollkommener Roman über die Zeit im Kommunismus, Kalten Krieg und während der Nach-Stalin-Ära, sondern vor allem eine Hommage an die geliebte Literatur. Obwohl sie nicht komplett frei zugänglich war, entwickelt das »Trianon« eine Hingabe zu ihr. Ist bereit für sie zu kämpfen, zu kapitulieren – alles zu verlieren. Ulizkaja nimmt dabei die Leserschaft auf einen langen Sowjet-Ausflug, auf dem man Alexander Solschenizyn, Joseph Brodsky, Fjodor Dostojewski, Anton Tschechow, Alexander Puschkin, Boris Pasternak, Ossip Mandelstam, Anna Achmatowa, Nikolai Gumiljow und vielen mehr begegnet. Neben diesen erwähnt und beschreibt sie bei ihrem »Sightseeing« ebenso wichtige Persönlichkeiten der Musik und Kunst.
Plädoyer für geistige Freiheit
Ilja agiert als »aufmüpfigste« Figur. Der Protagonist und Fotograf erschafft sich ein großes Netzwerk aus Menschen mit »ausgefallenen Interessen und außerordentlichem Wissen«. Alle getarnt als Pförtner, Fahrstuhlführer oder fiktive Privatsekretäre. Alle im Untergrund operierend. Unabhängig vom Staat. Theologen, Philosophen, Poeten, Menschenrechtler, Linguisten etc. Ilja schafft Bücher, die auf den schwarzen Listen wie »Technologie der Macht« (Abdurachman Awtorchanow) oder »Archipel Gulag« (Alexander Solschenizyn) stehen, an. Vervielfältigt sie, verlegt ebenso Werke ins Ausland. Gibt die Samisdatausgabe »Chronik« heraus, wodurch er seine Erfahrung mit dem KGB machen muss, letztlich gar für sie mitarbeitet und am Ende dennoch aus dem »Kerkerland« flieht.
Sanja dagegen interessiert sich nicht besonders für Politik. Liebt stattdessen die Musik. Aufgrund einer Verletzung auf dem Schulhof, wo ihn jemand eine Sehne durchschnitt und seiner Pianisten-Karriere ein Ende bereitete, entscheidet er sich für die Theorie. Seine intelligente Großmutter zieht den oftmals kränkelnden Jungen auf, der sich wohl eher für das gleiche Geschlecht interessiert.
Es regnete, es schneite, Pappelflaum flog durch die Straßen, unerträglich war das politische Getöse über Siege und Leistungen, die Losung: »überholen ohne einzuholen«. In den Küchen wurde Tee und Wodka getrunken, raschelten kriminelle Papiere, rauschten Tonbandaufnahmen mit Galitsch und dem jungen Wyssotzki, und auch dort entstanden neue Töne und neue Gedanken. Doch das alles bemerkte Sanja kaum. Das war die Welt von Ilja und Micha, seinen Schulfreunden, die sich immer weiter von ihm entfernten. (S. 235)
Rotschopf Micha, jüdischer Abstammung, begeistert sich für die Poesie, neigt zur Sonderpädagogik, wird dann aufgrund seines Konsums eines kritischen Buchs als Lehrer von einem Gehörlosen-Internat verwiesen und driftet dank Ilja ins Illegale ab. Bringt ebenfalls ein Magazin heraus, setzt sich für die Krimtataren ein und wird schließlich eingesperrt. Anders als Ilja und Sanja schafft Micha es nicht, zu emigrieren und muss dafür büßen. Obwohl die Wege der drei Freunde, die sich in der Schule »Das Trianon« nannten und Außenseiter waren, oft auseinandergehen, kreuzen sie sich immer wieder.
Niemand kennt das Geheimnis, das Gesetz der unwiderstehlichen Kraft, die einen bestimmten Mann zu einer bestimmten Frau zieht. Der Prediger Salomo kannte es jedenfalls nicht. Mittelalterliche Legenden liefern eine gewisse Erklärung – Liebestränke. Also Gift. Wahrscheinlich das gleiche Gift, mit dem der allmächtige Eros seine operettenhaften Pfeile tränkte. Die Menschen der Neuzeit finden die Erklärung in den Hormonen, die den Instinkt der Arterhaltung steuern. Natürlich existiert zwischen dieser praktischen Aufgabe und der platonischen Liebe eine gewisse Kluft, sogar modern ausgedrückt, eine kognitive Dissonanz. Der handfeste Zweck der Arterhaltung wird mit allen möglichen rituellen Schnörkeln kaschiert, mit Hochzeitssträußen, Popen, Stempeln mit Wappentier und so weiter, das bis hin zum demonstrativ präsentierten blutbefleckten Lacken. In diesem Sinne ist mit der Liebe alles mehr oder weniger klar.
Doch was war mit der Freundschaft? Sie wird von keinem Urinstinkt gestützt. Sämtliche Philosophen der Welt (selbstredend Männer, Philosophinnen gab es vor Piama Gaidenko nicht, wenn man von der legendären Hypatia absieht) siedeln sie in der Hierarchie der Werte ganz oben an. Aristoteles liefert eine wunderbare Definition, die bis heute makellos scheint, im Gegensatz zu vielen anderen seiner Ideen, die heute veraltet sind. Also – »die Freundschaft ist eine Tugend oder mit der Tugend verbunden. Ferner ist sie fürs Leben das Notwendigste. Ohne Freundschaft möchte niemand leben, hätte er auch alle anderen Güter.« (S.435/436)
Wink mit dem Zaunpfahl
»Das heutige Russland, demokratisch!« Eine Aussage, die nicht nur ein müdes Lächeln mit sich ziehen würde, sondern radikalen Protest. Die Repression, die Ulizkaja, sie verteilte einst selbst Samisdat-Literatur, schildert, gehört nicht nur der Vergangenheit an. Stattdessen ist sie allgegenwärtig: Kreml-Gegner werden beiseite geschafft. Ulizkaja attestiert nicht von ungefähr ihrem Heimatland eine Stalinisierung. Einige »Einzelfälle«.
Tschetschenien-Expertin und Journalistin Anna Politkowskaja wird getötet. »Wer die Auftraggeber im Hintergrund sind, ist immer noch unbekannt.« Journalist Oleg Kaschin entgeht knapp dem Tod und fällt ins Koma. Unbekannte setzten ihm Prügel zu. Der Film »Der Fall Chodorkowski« des Regisseurs Cyril Tuschi wird kurz vor der Veröffentlichung auf der Berlinale in der Endfassung gestohlen. Putin-Gegner Boris Beresowskij überlebt mehrere Mordanschläge und stirbt – angeblich Suizid. Dissident Alexander Litvinenko wird durch eine Attacke mit radioaktivem Polonium-210 ermordet. Der Prozess gegen Pussy Riot.
»Es ging mir vor allem darum, über mein Verhältnis zur Sowjetmacht zu schreiben und über mein Verhältnis zu Macht generell«, erklärt die Autorin. Noch eine weitere Absicht hat sie verspürt. Zu zeigen, dass die 60er-Generation keineswegs Schuld an der heutigen poltischen Misere in Russland habe, was viele junge Menschen ihr ankreiden. Sie, die alles selbst miterlebte, bekleidet die vorteilhafte Position, um dazu solch einen Roman zu verfassen. Ulizkaja hatte Dissidenten als Freunde, betrachtete aber selbst alles eher aus der Ferne.
Die schnörkellose eindrucksvolle Sprache Ulizkajas erscheint bestens geeignet für dieses Thema. Dabei springt sie auf den knapp 600 Seiten innerhalb des 20. Jahrhunderts. Geht nicht chronologisch vor. Fädelt immer wieder neue Personen ein. Betrachtet aus unterschiedlichen Perspektiven. Manchmal weniger kohärent, manchmal mehr. Durch diese Stilformen verdichten sich die Hauptcharaktere, ihre Wünsche, Träume, Ängste und Hoffnungen, und gedeihen.
Ein abgegriffenes Wort, dieses Meisterwerk, aber es trifft zu. »Das grüne Zelt« wirkt epochal, exzeptionell und historisch aufklärend. Ljudmila Ulizkaja gelingt famose Literatur, die sauber konzipiert wurde und äußerst aufhellend daherkommt, über eine Zeit, wo Sie, lieber Blogbesucher, und ich, ausgeblendet soll die Technologie und Virtualität, uns wahrscheinlich nicht begegnet wären.
[Buchinformationen: Ulitzkaja, Ljudmila (August 2012): Das grüne Zelt. Hanser Verlag. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Titel der Originalausgabe: Зелёный шатер (2011). 592 Seiten. ISBN: 978-3-446-23987-6]
Da habe ich jetzt die „Reise in den siebenten Himmel“ gefunden
Sehr interessant!
Durchaus. Habe es sehr gemocht und werde es sicherlich irgendwann noch einmal lesen. Kann ich deswegen ohne Einwände nur empfehlen – ein ganz starkes Werk!
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