Nach M. Agejew alias Mark Levi und seinem »Roman mit Kokain« erschien 2012 in der BRD ein weiterer »verschollener«, russischer Autor mit dem Werk »Das Phantom des Alexander Wolf«. Die Rede ist von Gaito Gasdanow, 1903 geboren, ossetischer Abstammung, einst Exilrusse in Paris. Ähnlich wie Levi wird Gasdanow mit Vladimir Nabokov verglichen. Nicht nur, weil er ebenso ein Flüchtling war wie Nabokov, sondern auch damals in den Emigrantenkreisen als große, literarische Hoffnung bezeichnet wurde.
Gaito Gasdanows Idee enthält etwas Geistreiches, wenn auch gleich Märchenhaftes. Das lyrische Ich entkommt als junger Bursche knapp dem Tod im Russischen Bürgerkrieg, erschießt dafür allerdings jemand anderen – so glaubt er zumindest. Einen Reiter auf einem weißen, apokalyptischen Hengst und sieht ihm dabei entsetzt zu, wie er vermeintlich stirbt. Reitet dann aus Angst davon, weil er andere trappende, feindliche Geräusche wahrnimmt.
Jahre später findet sich der Icherzähler in Paris ein, kommt nach wie vor nicht darüber hinweg, jemanden getötet zu haben, »jeder Gedanke an ihn – war für mich unwillkürlich zur Verkörperung all dessen geworden, was es in meinem Leben an Totem und Traurigem gab«, und liest eine interessante Erzählung, die ihn aus den Wolken fallen lässt. Da beschreibt tatsächlich ein gewisser Alexander Wolf, wie er im gleichen Krieg angeschossen wird. So direkt und detailgetreu, dass es mit der einstigen Wahrnehmung des Protagonisten zu Hundertprozent übereinstimmt. Blanker Wahnsinn? Dass denkt sich der Leser ebenfalls und begibt sich auf die Suche nach Wolf, die ihm nun keine Ruhe lässt. Er will mit dieser Geschichte abschließen, seinem einstigen Gegner in die Augen schauen und sich positionieren, ihm erklären, dass er es war, der ihn da fast ins Jenseits beförderte.
Bei der Suche nach Alexander Wolf trifft der Erzähler auf Jelena Nikolajewna, beginnt eine Affäre mit ihr, verliebt sich in sie, gewöhnt sich an ihre »unnatürliche Trennung von seelischem und körperlichem Leben, die für sie so charakteristisch war«. Dass ihr Geist ehemals stark gekränkt wurde, erfährt er. Von einer früheren Beziehung. Von einem Mann, der sie durch seine Nähe vergiftet habe.
Schließlich begegnet er Wolf, gesteht ihm, dass es seine Kugel war, die sein Herz traf und lernt das einstige Opfer kennen, das außergewöhnlich ist, und merkwürdige Ansichten über das Sterben hat, »dass Tod und Glück Begriffe ein und derselben Kategorien seien, da der eine wie der andere die Idee der Unbeweglichkeit mit sich trage«.
»Wenn wir über jene grimmige und traurige Kühnheit verfügen, die den Menschen veranlasst, mit offenen Augen zu leben, können Sie dann etwa glücklich sein? Es ist doch ganz unvorstellbar, dass Menschen, die wir für die bemerkenswertesten halten, glücklich waren. Shakespeare konnte nicht glücklich sein. Michelangelo konnte nicht glücklich sein.« (S. 138)
Aus Wolfs Aussagen macht sich der Icherzähler schließlich seinen eigenen Reim und fasst es im Existentialismus zusammen:
Jede menschliche Existenz hängt mit anderen menschlichen Existenzen zusammen, diese wiederum hängen mit noch anderen zusammen, und wenn wir diese wechselseitigen Beziehungen bis zum logischen Ende verfolgen, nähern wir uns der Gesamtzahl der Menschen, die die riesige Fläche der Erdkugel besiedeln. Über jedem Menschen, über jedem Leben schwebt ständig die Gefahr des Todes in all ihrer unendlichen Vielgestaltigkeit: Katastrophen, ein Zugunglück, Erdbeben, Sturm, Krieg, Krankheit, ein Unfall – all das sind Erscheinungsformen einer blinden und erbarmungslosen Gewalt, deren Besonderheit darin liegt, dass wir niemals vorher den Moment bestimmen können, wann er eintreten wird, diese jähe Bruch in der Weltgeschichte. »Denn ihr wisset weder Tag noch Stunden…« Und da erhält einer von uns, dessen Seelenkraft ausreicht, um den schrecklichen Widerstand dagegen zu überwinden, auf einmal die Möglichkeit, für kurze Zeit stärker zu werden als Schicksal und Zufall, Erdbeben und Sturm, und genau zu wissen, er würde in einem bestimmten Moment jede komplizierte und langwierige Evolution von Gefühlen, Gedanken und Existenzen aufhalten, jene Bewegung eines vielgestaltigen Lebens, die ihn hätte zertreten müssen in ihrem unaufhaltsamen Vorwärtslauf. Liebe, Hass, Angst, Bedauern, Reue, freier Wille, Leidenschaft – jedes Gefühl und jeder Gefühlskomplex, alles ist ohnmächtig vor diesem kurzen Machtmoment des Tötens. Mir gehört diese Macht, ich kann auch ihr Opfer werden, und wenn ich ihre Anziehungskraft empfunden habe, wird mir alles, was sich außerhalb dieser Vorstellung befindet, als phantomhaft, unwesentlich und unbedeutend erscheinen, und schon kann ich nicht mehr das Interesse an den zahllosen unwichtigen Dingen teilen, die für Millionen Menschen den Sinn des Lebens bilden. Ab dem Moment, da ich das weiß, wird die Welt für mich eine andere, ich kann nicht mehr leben wie alle übrigen, nie werde über diese Macht verfügen noch über diese Einsicht, weder ein Bewusstsein haben von der ungewöhnlichen Zerbrechlichkeit aller Dinge noch von der eiskalten und ständigen Nachbarschaft des Todes. (S. 148/149)
Letztlich hängt das Finale, mit den zwei, für den Erzähler wichtigsten Menschen zusammen. Wer, wie und was? Verraten möchte ich nichts. Nur so viel, wer »Das Phantom des Alexander Wolf« aufmerksam liest, stößt schon vorher auf Hinweise, wie alles seinen Abschluss finden könnte.
Das, was Gaito Gasdanow betreibt, hängt eng mit dem Genre des Krimis zusammen und ist im Endeffekt, wie im Klappentext beschrieben, eigentlich ein »Seelenkrimi« gepaart mit einer Liebesromanze, der wahrscheinlich viel von Gasdanows Erlebten einfließen lässt. Schließlich war er selbst im Krieg, lebte in Paris. Von der französischen Hauptstadt sind viele Beschreibungen zu finden. Ebenso von einem Boxkampf, den er eindrucksvoll – für mich als Boxliebhaber – beschreibt, der allerdings kaum etwas mit dem wesentlichen Strang zu tun hat.
Denn manchmal driftet Gasdanow trotzallem, samt den inneren Schilderungen zu sehr ab und fokussiert sich zu wenig auf den eigentlichen Plot, aus den man deutlich mehr ausschöpfen könnte – aus diesem außergewöhnlichen Produkt des Zufalls. Claus-Ulrich Bielefeld nennt ihn »einen Meister der Abschweifungen«, die »spannungsfördernd« sein sollen. Ich empfinde diese leider nur als störend und Hinhaltetaktik, die darum bemüht ist, noch ein paar Zeilen mehr zu füllen.
In der Tat sind die zerrissenen Figuren psychoanalytisch dargestellt, mit ihren Eigenschaften gelungen – das möchte ich keineswegs absprechen. Das Problem an dem Ganzen: der vielversprechende Anfang. Dieser zog mich sofort in seinen Bann. Versetzte mich in eine Art Tunnelblick. Doch dann flaute der Roman ab – und kam nicht mehr an den gelungenen Einstieg heran. Trappte so vor sich hin. Erzeugte dann mal wieder Spannung, bisweilen aber auch Däumchen drehen.
Ein Klassiker muss kein Epos sein, ließ Marcel Reich-Ranicki mal verlauten. »Das Phantom des Alexander Wolf« hat zwar die Kürze, nur lassen sich etliche andere (russische) Autoren, denen es in dieser Länge doch bei weitem besser gelungen ist, finden. Von Gasdanows »ungewöhnlicher Stilistik« wird im Nachwort der Übersetzerin Rosemarie Tietze geschrieben. Er verinnerliche die rastlose russische Suche nach dem Sinn des Lebens, spüre den feinsten Verästelungen der menschlichen Psyche nach, heißt es weiter. Mag sein, doch meine Erwartungen waren vermeintlich zu immens, als dass ich »Das Phantom des Alexander Wolf« den Stempel »Weltliteratur« aufdrucken könnte. Soll nicht gleichermaßen heißen, dass er zurecht in Versenkung geraten ist, andererseits, dass er mich nicht vollends überzeugte.
ich war restlos hingerissen von Gaito Gasdanow. Die Szene, wie er einen Boxkampf beschreibt, absolut groß. Erzähl mir bitte, welche anderen russischen Autoren das in der Kürze besser hinbekommen haben als er, deiner Meinung nach. Die muss ich lesen. Für mich ist er Nabokov absolut ebenbürtig.
Die Boxszene fande ich ebenfalls absolut groß, konnte sie nur nicht richtig einordnen.
Andere Autoren? Tatsächlich Nabokov z.B. 😉 Oder eben, weil vor kurzem gelesen und noch im Hinterkopf: Agejew.
Und Narbikova, wenn ich die mal empfehlen darf und natürlich Martynova, auch wenn sie ihre Prosa in Deutsch schreibt. Und kennst Du Michael Schischkin? Den finde ich auch absolut großartig.
Weder von Narbikova noch von Martynova habe ich je was gelesen. Was kannst du mir von denen empfehlen. Lese gerade „Das grüne Zelt“ von Ulitzkaja, ist wunderbar! Wird noch eine Rezi zu kommen. Und um bei russischen Autorinnen zu bleiben, Tokarjewa ist ganz toll! 🙂
Schischkin kenne ich! „Venushaar“ steht bei mir noch unberührt im Regal…
Venushaar habe ich atemlos gelesen und auch Briefsteller, der neue Roman von Schischkin ist wunderbar. Dank Tretners Übersetzung.
Narbikova wird leider, so weit ich weiß, seit Ende der 90er Jahre nicht mehr übersetzt, so dass es nur drei Romane von ihr gibt, die auch ich lesen kann. Martynova hat jetzt ihren zweiten Roman vorgelegt, „Mörikes Schlüsselbein“ und der ist tatsächlich noch besser als es Sogar Papageien überleben uns“,ihr Debüt bereits war.
Sehr schön. Werde mich mit den beiden Damen befassen müssen 🙂
Ich habe mich auch von der Literaturkritik überzeugen lassen, den „Wolf“ unbedingt lesen zu müssen. Vielleicht sind meine Erwartungen dardurch auch ins schier Unermessliche gestiegen. Und so habe ich mich dann eher durch den Roman durch“arbeiten“ müssen, als dass ich ihn genussvoll lesen konnte. Es ist mir wie Dir gegangen, nach dem fulminanten Einstieg ist die Spannung sehr abgefallen. Das mag zum einen an einem Schreibstil liegen, der mich sehr an andere Romane aus der Nachkriegszeit erinnert hat, z.B. auch an französische Autoren (Beauvoir z.B.), und der mir dann zu weitschweifig, zu psychologisch scheint. Das mag aber auch an der Konstruktion des Romans liegen, die den Leser fast in einen Detektiv verwandelt, der die Zeichen deuten soll. Ao habe ich beispielsweise gleich drei Dreiecksgeschichten entdeckt, die sich jeweils spiegeln. Auch die Darstellung des Boxkampfes, die ja hier auch sehr gelobt wird, nimmt – fast wie eine Parabel – die Geschichte des Erzählers vorweg. Wahrscheinlich gibt es noch viele weitere Beispiele für diese schönen HInweise, die Leser enträtseln sollen. Und das mag dazu führen, dass die Geschichts so „gewollt“ wird – und das Lesen fast anstrengt und nicht begeistert.
Das mit dem Weitschweifigen, Psychologischen fand ich gar nicht verkehrt. Erinnerte mich vereinzelt an Dostojewksi. Schlimmer, dass Gasdanow immer versuchte, stets noch mehr abzuarbeiten: atmosphärische Paris, krimineller Untergrund usw.
Ebenso gefiel mir die Position des „Detektivs“, die man ja regelmäßig beim Lesen einnimmt. Den Boxkampf konnte ich zwar nicht als Parabel sehen, klingt nun nach deiner Bemerkung aber plausibel, vielen Dank! Den eindringlichsten Hinweis empfand ich bei der Beschreibung von Wolfs Augen. Darauf geht die Liebhaberin bei ihren Erzählungen über den Mann, der sie teilte, ein und dadurch zeichnete es sich für mich früh ab, wie denn alles ausgehen möge.
Hey! Gerade dieses Buch lese ich gerade!
Werde in wenigen Tagen posten.
Liebe Grüße, Gregor
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Ich freue mich, deine Rezi gefunden zu haben. Dem Buch wird etwas zwillingshaftes zu „Die Rückkehr des Buddha“ nachgesagt, das ich gerade gelesen habe.
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