Jewgeni Samjatin – Wir

Weniger als ein Prozent der Erdbevölkerung hat nach einem zweihundert Jahren andauernden Krieg überlebt. Die vom Schmutz gereinigte Erde erstrahlt in ungeahntem Glanz und die Menschen leben in einem Staat namens Union. Sie formen sich zu einem harmonischen Organismus; ein Raum für Zufälle oder Unerwartetes ist nicht vorhanden – nicht vorhergesehen. Der Hunger besiegt, Liebe und Verbrechen abgeschafft. Jewgeni Samjatins »Wir«, 1920 erschienen, gilt als erste klassische, negative Utopie. Dieser Roman inspirierte George Orwell (»1984«) und Aldous Huxley (»Schöne neue Welt«) – und wird leider zu selten im gleichen Atemzug genannt.

Viele Leser denken sich nach Dystopien: Krass, da hat jemand so viel vorhergesehen. Und Verlage werben mit dem Zusatz »von erschreckender Aktualität«. Orwells »1984« steht wieder in den Bestsellerlisten, auch weil er eine Form von »alternativen Fakten« in seinem Stück erwähnt. Hat Orwell den Präsidenten Trump etwa erahnen können? Ähnlich sieht es bei Samjatin aus. Er verfasste »Wir« noch, bevor Stalin und Hitler an der Macht waren – und hat gerochen, was Diktatur und Totalitarismus auslösen. Samjatin war keine Hexe, die in eine Glaskugel schauen konnte. Der Russe bemerkte jedoch, dass etwas in Ungleichgewicht geriet und die Freiheit gefährdet war.

»Wir« – einen passenderen Namen hätte Samjatin (*1884 – †1937) nicht finden können. Denn das Kollektiv steht in seiner Geschichte über allem. Über fast allem. An der obersten Spitze befindet sich noch der »Wohltäter«, ein Allmächtiger, der über die Union herrscht. Wahlen haben einen symbolischen Charakter, noch nie hat sich eine Stimme »erdreistet« zu stören, noch nie hat jemand eine Opposition gebildet. »Unsere Wahlmethoden erziehen die Menschen zu einer edlen Gesinnung, sie sind viel aufrichtiger und besser als die feige, verlogene Geheimniskrämerei von einst.«

Jewgeni Samjatin – Wir 2Ursprüngliche Namen haben die Einwohner der Union nicht, Kombinationen aus Buchstaben und Zahlen ersetzten diese. D-503 ist einer von ihnen und Konstrukteur des Sternenschiffs Integral, mit dem die Union den Weltraum erobern will. »Wir« ist aus der Perspektive von D-503 verfasst. Das Buch besteht aus seinen 40 Tagebucheinträgen. Er beschreibt das klar strukturierte und vorprogrammierte Leben in der Union.

Ein Amt gibt sogenannte Geschlechtstage vor. Kinder sind verboten, aber jede Nummer kann mit einer anderen Nummer Sex haben, damit Eifersucht unterdrückt wird. »Dann stellen Sie den Antrag, sich an den vorgeschriebenen Tagen dieser oder jener Nummer zu bedienen, und man händigt Ihnen zu diesem Zweck ein Heftchen mit rosafarbenen Billets aus.« Die Wände der Wohnungen sind durchsichtig, Geheimnisse unmöglich. Beschützer greifen ein, wenn etwas schief läuft. In persönlichen Stunden treffen sich die Menschen in Uniformen zum Marsch.

Mit seinem Leben ist D-503 soweit zufrieden, bis sich eine Seele in ihm bildet. Er verliebt sich in I-330, weibliches Mitglied einer Untergrundorganisation, und erfährt, dass eine andere Welt neben der Union existiert.

Samjatin, der selbst Ingenieur war, wendet in »Wir« die mathematische Philosophie an. Seine Hauptfigur belegt alles mit Gleichungen, Formeln und Zahlen. »Ist die Freiheit des Menschen gleich null, begeht er keine Verbrechen«, schreibt D-503 an einer Stelle. Für jedes Problem findet er eine rationale und mathematische Lösung, meint er. Deswegen kann nichts unklar und wage sein. Was ist aber mit der Kunst, Musik oder Literatur? Auch die Dichtung hat die Union angepasst, sie dient als Dienst am Staat. Und die Phantasie? Sie wird in Operationen einfach herausgeschnitten.

Kollektivismus funktioniert nur, wenn niemand aus der Reihe tanzt. Aber Querdenker und Freigeister haben mit Entgegengesetztem die Geschichte verändert. Von all dem hat sich Samjatin in seiner Vision verabschiedet: Er zeigt Einheitsbrei und Fähnchen, die sich nach dem Wind drehen. Eine Lehre?

[Buchausgabe: Samjatin, Jevgenij. Wir. Ganymed Edition. Aus dem Russischen von Elena Boulé. Titel der Originalausgabe (1920): Мы. ISBN: 978-3946223115]

[Bild: Screenshot stammt vom gleichnamigen Film, der 1982 veröffentlicht wurde.]

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10 thoughts on “Jewgeni Samjatin – Wir

  1. Vielen Dank für diese Besprechung und den Buchtipp! Mir war „Wir“ bislang gar kein Begriff und die Parallelen zu späteren Werken, insbesondere natürlich zu „1984“ sind gewaltig. Schade, dass Samjatins Werk nicht der gleiche Erfolg gegönnt war wie den Dystopien von Orwell oder Huxley. Ich werde die Lektüre von „Wir“ auf jeden Fall nachholen und bin gespannt auf die Umsetzung.

    • Orwell kannte „Wir“ auf jeden Fall, das ist bewiesen. Er hat auch einen Aufsatz über Samjatins Werk verfasst. 🙂 Dass Samjatin nicht so erfolgreich wie Orwell oder Huxley geworden ist, lag sicherlich daran, dass sein Werk erst 1988 in der Sowjetunion veröffentlicht werden durfte. Ich bin gespannt, was du dazu sagen wirst. 🙂

  2. Ich hatte das Buch mal vor ca. 9-10 Jahren begonnen und abgebrochen. Das war, als ich auch Huxley und Orwell las. Ich kam nicht richtig in die Handlung rein und ich glaube, mir hatte der Stil nicht so sehr gefallen. Vielleicht sollte ich es mal wieder probieren. 🙂

  3. Auch von mir ein Dankeschön für diese wunderbare Leseempfehlung, zumal ich immer wieder gern Dystopien lese. Einmal mehr zeigt auch dieses Buch und mit Blick auf Deinen Kommentar, dass in der russischen Literatur noch einige Schätze zu heben sind. Man kann gespannt sein. Viele Grüße

  4. Klar, Zamjatin ist in Deutschland weniger bekannt als die anderen beiden Klassiker. Sicher auch dadurch bedingt, dass die beiden Engländer seit Jahrzehnten beliebte Schullektüre im Fach Englisch sind. Aber in jedem Literaturlexikon ist auch „Wir“ Bestandteil der „Dreifaltigkeit“ der großen Dystopien/Anti-Utopien.
    Danke für die Rezension!

  5. Pingback: [Die Sonntagsleserin] April 2017 | Phantásienreisen

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