Wie liest man richtig? Das soll jeder durch Erfahrungen selbst beantworten, für sich den passenden Lösungsansatz finden. Nichtsdestotrotz hat der Philosoph Johann Adam Bergk (*1769 – †1834) in seinem Werk »Die Kunst, Bücher zu lesen« (1799) einige Ansätze niedergelassen, die sich immer noch größtenteils auf das heutige Lesen übertragen lassen. Kernaussage ist sicherlich, dass wir durch Bücher unserem Verstand zum Arbeiten bringen lassen sollen, da er sonst droht, ohne geistige Aktivitäten abzustumpfen. In dem gelungenen Auszug spricht Bergk über die notwendige Reflexion beim Lesen und davon dass unterschiedliche Literatur konsumiert werden soll, die zum Erweitern dient. Äußerst gelungen sind seine Worte, wenn es darum geht, schwierige Bücher oder Passagen zu meistern. Der Leser müsse agieren wie ein geschickter Künstler, der am Ende alle Puzzlestücke zusammensetzt und dadurch das große Ganze betrachten kann: »Wir müssen über jeden Stoff, den wir bearbeiten, die Oberhand zu gewinnen suchen, und wir müssen herrschen, so viel Schwierigkeiten auch zu besiegen sind.« James Joyce und »Ulysses« sollen kommen! Kaltes Wasser ins Gesicht, frische Luft und los.
„Das Lesen soll ein Erziehungsmittel zur Selbstständigkeit sein, und die meisten brauchen dasselbe als einen Einschläferungstrank; es soll uns frei und mündig machen, und wie vielen dient es bloß zur Zeitkürzung und zur Erhaltung von dem Zustande einer ewigen Unmündigkeit!
Bei allem Lesen müssen wir der Denkkraft durch die Einbildungskraft zu Hülfe kommen: wir müssen diese an die Auffassung und Vergegenwärtigung langer Gedankenreihen gewöhnen, damit der Verstand das Ganze immer übersehen kann, und wir müssen die Vorstellungen durch sie lebendig machen, damit der Verstand Lust zum Denken erhalte. Trockne Materien vertilgen in uns leicht das Interesse, dass wir am Denken finden, wir müssen daher suchen, uns durch ein moralisches Interesse zu beleben, damit unserer Geist nicht ermattet die Flügel sinken lasse, und sowohl die Kraft als die Lust am Denken verliehre. Jeder auch noch so gleichgültige Gegenstand kann durch das Verhältniß, worein man ihn setzt, Interesse gewinnen, und uns dadurch auch wider Willen zum Nachdenken fortreißen.
Lehrreiche Bemerkungen und wichtige Beobachtungen, interessante Thatsachen und nützliche Entdeckungen, schöne und gedankenreiche Stellen, neue Außsichten und Wahrheiten eröffnende Reflexionen, kurz, alles, was Wichtig, Interessant und Neu ist, müssen wir uns anmerken. Wir müssen die Feder immer bei der Hand haben, um dasjenige, was uns auffällt, und das etwan für uns einen Vortheil haben kann, niederzuschreiben, und lesen wir das Niedergeschriebene auch nicht immer wieder durch, so haben wir doch länger bei dem Gegenstande verweilt, und haben ihn tiefer eingeprägt. Wir sind nunmehro nicht mehr in Gefahr, ihn so bald wieder zu vergessen, wie wir es vorher waren, ehe wir denselben uns aufschrieben.
Wir müssen das Gelesene oft durchdenken, und versuchen, es selbst darzustellen, und nach unserer eigenen Weise zu bearbeiten. Wir lernen hierdurch Selbstdenken und sammeln zugleich einen reichen Schaz von Materialien ein, die allein den Gedanken Werth und Interesse geben. Es muß uns daher sehr viel daran gelegen seyn, unseren Geist durch fremde Stoffe zu bereichern, damit wir durch Uibung in der Selbstthätigkeit zugeleich einen großen Vorrath an Stof zum Arbeiten erhalten. Nichts macht uns unzufriedener (weil nichts peinlicher ist), als Armuth. Wir verschwenden eine große Masse von Kräften ohne Gewinn, und wir ermüden und lähmen unseren Geist, ohne die Aussicht auf Eroberungen im Reiche der Wahrheit. Wir müssen die Materien beim Lesen wechseln, denn Abwechslung ist Erquickung. Unser Geist behält stets Kraft und Lust zum Arbeiten, sobald wir uns beim Lesen vor Einförmigkeit der Stoffe hüten. Wir müssen daher bald einen Philosophen, bald einen Dichter, bald einen Geschichtsschreiber, bald einen Naturkundigen lesen: wir haben hierbei zugleich den Vortheil, daß wir vielerlei Dinge kennen lernen, die dem Menschen zu wissen nöhtig sind.
Wir müssen eine große Auswahl in unserer Lektüre treffen, und nur solche Werke lesen, die sich durch Reichthum und Originalität der Gedanken und durch Schönheit und Lebhaftigkeit der Darstellung auszeichnen. Wir gewöhnen dadurch unseren Geist an eine stete Beschäftigung, und mache ihm Müßiggang, Gedankenarmuth, Unnatürlichkeit, Uibertreibungen u.s.w. verhaßt. Er erlangt einen gewissen Takt, der ihn immer auf den Pfad der Wahrheit und des Rechts fortführt. Einen originellen und gedankenreichen Schriftsteller mehrmals durchzulesen, ist ein größerer Gewinn für unsere Kultur und für unsere Kenntnisse, als die Lektüre von vielen gemeinen und gedankenleeren Büchern.
Man hat einen großen Gewinn von dem Bücherlesen, wenn man sich mit jemand über das Gelesene zu unterhalten sucht. Wir werden alsdann genöthigt, mehr und länger über einen Gegenstand nachzudenken, wenn wir denselben einem Anderen mittheilen, als wenn wir ihn bloß für uns bearbeiten wollen. Durch Streiten und Disputiren wird manche Wahrheit gewonnen, und durch Anschlagen mancher Funken hervorgelockt, der, wenn er Stoff findet, zur hellen Flamme auflodern kann. […] Wir müssen alles thun, was unseren Geist beim Lesen lebendig erhalten kann. Wir müssen nicht allein geistige, sondern auch physische Mittel brauchen, unsere Aufmerksamkeit zu beleben und zu stärken. Das öftere Waschen des Gesichts mit kaltem Wasser, der Genuß einer freien reinen Luft u.s.w. erhalten unseren Geist munter, und machen ihn stets zu neuen Anstrengungen geneigt. […]
Überhaupt müssen wir streben, Herr jedes Stoffes zu werden. Wir müssen ihn selbstthätig bearbeiten, und uns nicht von ihm unterjochen lassen. […] Wir müssen alles Lesen auf unser Ich beziehen, und es im Verhältniß zu demselben betrachten, und nie von dem Gedanken abweichen, daß uns alles Studiren selbstthätiger und freier machen, und zur Mündigkeit des Verstandes und Herzens verhelfen soll.
Der Leser muß ein Buch wie ein geschickter Künstler behandeln, der an seinen Stoffen so lange arbeitet und bildet, bis er ein herrliches Werk daraus gemacht hat. Er muß sich kühn durch jedes Hinderniß und durch jede Schwierigkeit hindurch arbeiten, um seine Kräfte zu üben, und sich durch Aussicht auf Gewinn Lust zur Selbstthätigkeit in sich erwecken. Alles Lesen muß auf die Auferweckung unserer Kräfte abzielen, und wir müssen uns in den Stand sezzen, jedes Buch, das Erscheinungen des menschlichen Geistes enthält, so viel, als möglich, in uns wieder zu erneuern, welches vorzüglich der Zustand ist, wo wir an Kultur und Kenntnissen am meisten gewinnen. Wir müssen über jeden Stoff, den wir bearbeiten, die Oberhand zu gewinnen suchen, und wir müssen herrschen, so viel Schwierigkeiten auch zu besiegen sind.“
Fotocredits: Christos Tsoumplekas / Evan Bench.
Hat dies auf ReBlog! Hier findet sich alles was mir gefällt. Über "Kategorie" wirds dann übersichtlich 🙂 rebloggt.
Oh, vielen Dank für diese Zitate! Die sind wirklich zeitlos.
Das finde ich auch. Und wenn man sie genauer betrachtet, kann man sie tatsächlich auch aufs Bloggen übertragen, ist mir aufgefallen 😉
Ja, und ich finde sie so gut, dass ich überlege, sie mal im Unterricht mit den Schülern zu lesen. Also noch mal Danke fürs Entdecken und Teilen. Wie bist du denn auf Bergk aufmerksam geworden?
Schaden würde es definitiv nicht und gefunden habe ich es im Buch „Warum lesen?“ von Christiaan L. Hart-Nibbrig, der dort einige Zitate ums Lesen vereint.
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