Medien seien für die allgemeine Verdummung und Stupidität zuständig. Ein relativ einfältiger Vorwurf, weil er oftmals nicht ausdifferenziert und entsprechend belanglos ohne ausreichende Argumentationen in den Raum geworfen wird. Aber nehmen wir mal an, dass sie tatsächlich so mächtig sind, unseren Willen zu lenken. Wie kann man gegensteuern? Auf die Ursprungsquelle soll eingewirkt werden und damit auf die Macher, die für das vermeintliche Übel und die Manipulation verantwortlich sind. Der aus Kentucky stammende Joey Goebel entwirft in seinem zweiten Roman eine innovative und gleichzeitig phantasievolle Idee. Die Urheber sollen leiden, von Kindesbeinen an. Auf sie soll Einfluss genommen werden, seelischer Schmerz wirke sich schließlich auf die Produktivität und Kreativität aus, zeigen zumindest bekannte Persönlichkeiten wie van Gogh und andere. Der Plan dahinter: Entwicklung einer schöpferischen Begabung, die durch die Qual entsteht und dadurch gefördert wird, sodass die Werke am Ende alles andere als Einheitsbrei verinnerlichen, l‘art pour l’art sozusagen oder ohne Leid kein Preis.
Vincents Geschichte wird von Harlan erzählt, der gleichzeitig den Manager von Vincent verkörpert. Harlan wird schon früh Dreh- und Angelpunkt Vincents, denn er ist es, der ihn dirigiert. Seit Vincents Mutter, die gefühlt zehn Kinder von zehn verschiedenen Männern hat und an Drogenproblemen leidet, einen Vertrag unterschrieben hat, liegt Vincents Leben in Harlans Händen. Der junge Vincent gilt als talentiert und entspricht damit genau dem Bild, das der Medienkonzern von Foster Lipowitz, New Renaissance, fördern will. Lippowitz möchte die Medienlandschaft verändern, wahre Kunst zum Nachdenken auf Bildschirme, Bühnen und Radiosender bringen:
Ich möchte behaupten, daß die Unterhaltung die Kunst getötet hat. Die Akteure im Entertainment sind eher Sexsymbole als wahre Künstler. Das ist unser Grundproblem. Statt Kunst haben wir Unterhaltung, statt Künstler schöne Gesichter, die geil sind auf Ruhm, Spaß und Reichtum. Leider wird minimiert, Gewinn dagegen maximiert. Ab jetzt will ich die Kunst zurückbringen, koste es, was es wolle, oder mindestens die künstlerische Seite der Unterhaltung stärken. Das bedeutet, den künstlerischen Geist wiedererstehen zu lassen, mit dem der moderne Mensch anscheinend nichts anfangen kann. […] Ich bin der Überzeugung, daß wir den perfekten Künstler hervorbringen können, durch sorgfältige Steuerung seines Lebens zum Wohle der Kunst. ( S. 95)
Durch psychische Schmerzen soll Vincent, der schon bald die eigens aufgebaute Begabtenschule der Firma besucht, zum Genie reifen. Und Harlan zieht regelmäßig die Daumenschrauben an. Vincent, von Natur aus ein Außenseiter und Einzelgänger, der keine Freunde findet und mehr in Bücher vertieft ist, wird fortan regelmäßigen Rückschlägen ausgesetzt. Harlan vergiftet seinen Hund, sorgt dafür, dass die Mutter über alle Berge verschwindet und dass er über keine sozialen Kontakte verfügt. Findet Vincent dann doch eine Freundin, bereitet Harlan der Beziehung schnell ein Ende. Natürlich weiß Vincent (mutmaßlich unter einer Pechwolke stehend) nichts davon, dass Harlan ständig interveniert und für all das Leid verantwortlich ist. Harlan piesackt seinen Schützling immer mehr, kommt auf immer degoutantere Ideen – Hauptsache, Vincent wird Pein ausgesetzt. »Der entscheidende Punkt ist, dass Leiden inspiriert. Der Künstler nährt sich davon.«
So reift der mittlerweile depressive Vincent heran, ist umgeben von einer großen Traurigkeit und kreiert tatsächlich irgendwann Kunst, die Erfolg hat, – das Konzept scheint aufzugehen. Aber irgendwann und als Vincent Suizidversuche begeht, wird es selbst Harlan zu bunt, und er möchte aussteigen, sogar Vincent aus dem Sumpf herausziehen. Dass das alles nicht so einfach funktioniert und New Renaissance den Lohn harter Arbeit weiter ernten will, versteht sich von selbst.
Nicht nur Vincent leidet, mit ihm auch der Leser, der die grausamen Ungerechtigkeiten am liebsten stoppen würde. Immer wieder werden Vincent Steine in den Weg gelegt, er selbst mutiert zum Wrack, das nur noch ein Ziel hat: produktiv zu sein. Tatsächlich erinnert Vincent etwas an Jesus Christus, dem von oben herab ebenfalls Kummer bereitet wurde, um die Menschen durch die Opfer später auf den richtigen Weg zu bringen. Vincent tut nichts für sich, sondern alles für andere und kann nicht entfliehen.
Natürlich fügt Joey Goebel reichlich Medien- und Systemkritik in seinem Werk ein, das satirisch angehaucht ist, aber ebenso Dramatik enthält. Dabei bedient sich Goebel oftmals Klischees, wenn es darum geht, wie die stinkreichen Medienbosse leben und wie sie ihre Muskeln spielen lassen können. Das sind die besonderen Stellen im Buch, dem aber vielleicht ein bisschen Kürzung nicht geschadet hätte. Irgendwann werden Vincent dann doch zu viele Narben hinterlassen. Irgendwann und nachdem Vincent begreift, was in seiner bisherigen Laufbahn bisher so vor sich ging, driftet es ins Absurde ab, was dieser tolle Roman nicht verdient.
Joey Goebel ist ein erstaunlicher Autor, das zeigt er mir nach »Ich gegen Osborne« aufs Neue. Goebel wählt in seinen Werken Sonderlinge als Protagonisten aus und hinter ihren Geschichten steckt viel an Gedankenreichtum und Substanz. Auch in »Vincent« fordert er Rechenschaft, in einer Art und Weise, die überzeugt und berührt. Im Visier diesmal: der Mainstream und die Unterhaltungsindustrie. Nach Goebels Romanen stellt man vieles infrage, sie sind voller Skepsis und unfair, wie unsere Welt nun mal ist.
[Buchinformationen: Goebel, Joey (2005): Vincent. Diogenes Verlag. Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog und Matthias Jendis. Titel der Originalausgabe: Torture the Artist (2004). 431 Seiten. ISBN: 978-3257064858]