Werte. Verfall? Verschiebung? Ein erneut ausbreitender ›Machismo‹. Mangel an Pietät, Respekt, Fürsorge und Hilfsbereitschaft, stattdessen Oberflächlichkeit in all ihren Facetten. Die Welt dreht sich und mit ihr ebenso das Verhalten. Zum Positiven? Ganz im Gegenteil meint James Weinbach, Joey Goebels Protagonist in »Ich gegen Osborne«. Umgeben von Narzissmus, Sexualisierung, Proleten, Möchtegerns und Coolen in Anführungsstrichen hat er sich auf die Fahne geschrieben anders zu sein: ein Querdenker.
Die pheromongesättigte Aprilluft verwandelte die Genitalien sämtlicher Jungs in winselnde Wiesel, die sich abstrampelten, um zu den Mädchen zu gelangen, deren Eierstöcke durch Verhütungsmittel geschützt waren. Nur vier Jahre zuvor hatten sie noch alle mit Power Rangers gespielt. Mehr als einmal dachte ich: Satan, dein Name ist Pubertät. (S. 15)
Der aus Kentucky stammende Autor Joey Goebel beschreibt einen High-School-Tag aus der Sicht des 17-jährigen James Weinbach (das Lyrische Ich), der ohne Frage schlichtweg in die falsche Zeit geboren ist. Weinbach liebt Jazz, Schwarzweißfilme, klassische Literatur, Anzüge und unterscheidet sich komplett von seinen Mitschülern, die er verabscheut. Verabscheut für ihre Einstellungen und Ziele, die meisten Mädels flachzulegen, sich mit Drogen vollzudröhnen – dadurch der geliebte Held an der Schule zu werden.
Der Schulalltag ist sowieso schon quälend, als sich jedoch Gerüchte verdichten, dass sich seine einzige Liebe und Verbündete auf einer Spring-Break-Party buchstäblich beim Gruppensex die Hörner abstieß, steht für James alles Kopf. Ausgerechnet sie! Er holt zum Rundumschlag aus, wickelt den Schuldirektor um den Finger und schafft es so mit einem Kniff, dass der Abschlussball, »einem Ereignis, das viele für den wichtigsten Abend ihres Lebens, ihr A und O, ihren Daseinszweck, für den ultimativen Initiationsritus hielten«, abgesagt wird: »als ›Fuck you‹ für euch gedacht.« Er steht zum ersten Mal im Mittelpunkt, Nerds feiern seine Wohltat.
Doch im Inneren zerreißt den frustrierten James die Einsamkeit. Trotz seines Hasses auf die Umwelt ist er einer von ihr, obwohl er es nicht bemerkt. Aus seiner Sicht ein Außenseiter, der so eigentlich gar nicht wahrgenommen wird, sich lediglich derartig fühlt. Der Schnellschuss, anstelle von Sex keusch zu leben, und die Umsetzung hält bei James nach den deprimierenden Neuigkeiten um Chloe nicht lange an. Auch bei ihm rasten die Hormone förmlich aus, kann er sich jedoch noch zügeln. Der pessimistische und egoistische Blick hebt und senkt sich durch Chloes Handeln. Er deklariert sich als letzten Dandy und Gentleman seiner Art. Unbemerkt, dass er selbst von oben herab urteilt, ohne in die Schädeldecken zu gucken. Die Frage inwieweit George Orwells Big Brother in »1984« heutzutage präsent ist, beantwortet er in einer Aufgabe so:
»In 1984 ist der Große Bruder ein Etwas, dessen Ziel lautet, die Massen zu überwältigen, zu unterdrücken und letztlich zu entmenschlichen. Heute gibt es in der Realität tatsächlich so etwas. Doch unser Großer Bruder ist weder die Regierung noch unsere Eltern, die Polizei oder Mr. Shankly. Es sind wir. Genauer gesagt ist es etwas, das ich gern die Große Dumme Hurerei nenne, zu der wir alle gehören. Es ist das System, in dem wir leben und das uns alle in hirnlose Körper verwandelt. Es ist der zentrale betäubende Wirkstoff der Jahrtausendwende. So, wie niemand genau die Ursprünge des Großen Bruder kannte, bin ich mir nicht sicher, wie Große Dumme Hurerei entstand. Vielleicht hat die vom Big Business geführte Regierung sie geschaffen. Oder vielleicht haben wir sie selbst geschaffen, (…). Sie überwältigt, unterdrückt und entmenschlicht uns, ist aber effizienter als der Große Bruder, weil wir uns alle gegenseitig überwachen, und wir sind alle unsere eigenen Obrigkeiten, daher gibt es kein Entkommen. (…) Die Große Dumme Hurerei hält die Welt zwar in einem Zustand des Niedergangs, doch es gibt noch Hoffnung, solange der Einzelne innerhalb der Hurerei leben, aber selbständig denken kann.« (S. 333/334)
James‘ Traum: Schriftsteller zu werden und genau diese ›Hurerei‹ zu thematisieren. Im Kurs Kreatives Schreiben präsentiert er Rohfassungen, diese werden jedoch von den Teilnehmern verrissen, was wiederum Zweifel mit sich zieht – das Fass zum Überlaufen bringt. Doch schließlich kommt James nach all seinen Offenbarungen, nach all seinem Auskotzen (»Merkt ihr nicht, dass ich euch helfen will? Das Leben hat mehr zu bieten als Sperma und Explosionen.«) zum Entschluss, dass er sich mit seiner kritischen Ader nicht alleine bewegt. Dass viele Teenager anders oder genau wie er sich in einem Entwicklungsprozess befinden. Versuchen, ihre heranwachsende Identität zu filtern.
» (…) Doch ich vergesse immer, dass alle genauso leiden wie ich. Nur das sie stumm leiden. (…) Weißt du Chloe, ich bin überhaupt nicht gern, wie ich bin. Ich mag es nicht, dass ich immer so überkritisch bin. Es ist anstrengend. Wenn ich überkritisch bin, fühle ich mich immer schlecht dabei. Ich will Menschen mögen. Das will ich mehr als alles andere, habe aber das Gefühl, als wollten die Menschen von mir nicht gemocht werden. Doch auf sie einzudreschen, es ihnen heimzuzahlen, das ist nicht die Lösung.« (S, 403)
Sicherlich wären einige Kürzungen in »Ich gegen Osborne«, gerade im Mittelteil, vorteilhaft gewesen. Damit wäre allerdings der Autor samt seiner Figur mit dem wachsamen und analytischen Gemüt von der Stelle gerückt. Im Gesamtpaket liefert Joey Goebel schlicht und ergreifend überzeugende Arbeit ab. Hält der westlichen Kultur mit Aktualitätsbezug, obwohl die Geschichte sich noch vor dem Millennium abspielt, die Pistole auf die Brust. Nicht unbedingt den pubertären Jugendlichen, die sich oftmals hinter ihrer sozialen Schicht verstecken, sondern was zukunftsweisend passieren könnte, wenn diese nicht ausdifferenzierter denken oder stehen bleiben. Keine Abgrenzung stattfindet, ein ledigliches ›mit dem Strom schwimmen‹.
James Weinbach, eine Figur, die den Zeigefinger ausgestreckt hält und laut herausposaunt: »Achtung! Knipst das Licht da oben zwischendurch mal an!« Ein wunderbar skeptischer, wenn auch meist urteilssicherer Charakter, den man mit seinen ganzen Ecken und Kanten in dieser Art erst mal erschaffen muss. Was Joey Goebel mit »Ich gegen Osborne« betreibt, lässt sich relativ schwerelos zusammenfassen: famose Literatur liefern.
[Buchinformationen: Goebel, Joey (März 2013): Ich gegen Osborne. Diogenes Verlag. Aus dem Englischen von Hans M. Herzog. 432 Seiten. ISBN 978-3-257-06853-5]
[Weitere gelungene und aufschlussreiche Rezensionen zum Roman finden sich bei Literaturen und Buzzaldrins Bücher,]
Was meinst du damit: „17-jährigen James Weinbach (das lyrische Ich)“ ?
Übrigens – süßer Chinchilla! Ist doch einer, oder? Wie heißt denn das putzige Fellknäuel?
Hab es noch mal geändert, damit es verständlicher wird. Also, die Geschichte ist aus der Sicht von James geschrieben und es sind seine „Stimme“, Beobachtungen und Gedanken, die den Ablauf beschreiben. Ähnelt fast einem Tagebuch das Ganze. Ergo, das Lyrische Ich. 😉
Jupp, das ist ein Chin, der auf den Namen Scrat hört und dem Säbelzahn-Eichhörnchen aus „Ice Age“ manchmal ähnelt 😀 Darüber hinaus nagt er auch gerne Bücher an. Das war sein Versuch, eine erneute Schandtat zu betreiben :D, was der wunderbare Roman nicht verdient hätte. 😛
Sehr süß und sehr sympathisch. Was muss der Kleine gebildet sein, wenn er so manchen Buchstaben verschlingt … Du könntest ja eine Rubrik eröffnen – „Buch der Woche -verschlungen von Scrat“ … Wonach schmecken manche Romane wohl …? Viele Grüße an Scrat! 😉
Köstlich amüsiert bei deinem Kommentar. Fiel mir gar nicht ein, dass wir einen intelektuellen „Mieter“ in der Wohnung haben… 😀 Harter Kampf allerdings, wenn er auf Biegen und Brechen Ausgeliehenes anknabbern möchte. Mittlerweile wurden aber schon einige Methoden entwickelt, wie Bücher in Sicherheit gebracht werden. Manchmal sitzt er aber auch auf meiner Schulter und liest mit 😀 . Zumindest habe ich das Gefühl – wohl eher, handelt es sich um ein legeres Abwarten, bis Herrchen nicht mehr aufpasst und ab geht’s… Grüße werden ausgerichtet 😉
Eine schöne Besprechung eines Romans, den ich vor kurzem auch sehr gerne gelesen habe (ich danke für die Verlinkung!). Bei den zwischenzeitlichen Längen kann ich dir zustimmen, die habe ich ähnlich empfunden und doch hat mich der Erzählstrom von Joey Goebel immer wieder mitgerissen und verhindert, dass Langeweile aufkommen könnte.
Liebe Grüße
Mara
Sophie meinte, dass es ein geeigneter Goebel-Einstieg wäre. Dem kann ich zustimmen, denn es war mein erstes Buch von ihm und ich war größenteils begeistert. Bin schon gespannt, wie seine anderen Werke sind. Als nächstes kommt (irgendwann) „Vincent“ an die Reihe…