Lydia Tschukowskaja – Untertauchen

Wir benötigen Rückzugsorte, um dort Gedanken zu sortieren oder einfach nur die Probleme für einige Minuten auszublenden, zu verdrängen. In »Untertauchen« ist es für die Protagonistin der winterliche Wald, dessen Wirkung aufs Vergessen abzielt. Und doch wird die Ich-Erzählerin inmitten des weißen Glanzes der Birken eingeholt, mit den dunklen Kapiteln ihres Lebens konfrontiert und »fischt aus dem Abgrund des Gewesenen« – ein Buch voller Poesie, in dem auch die Autorin selbst, Lydia Tschukowskaja, ihr Schicksal verarbeitet.

Lydia Tschukowskaja - UntertauchenEigentlich will die Übersetzerin Nina Sergejewna in einem ländlichen Sanatorium für Künstler und Kreative abschalten. Immer wieder und auch in ihren Träumen begegnet ihr der Ehegatte, auf den sie immer noch sehnsüchtig wartet. Die Ungewissheit umringt sie und spannt sie auf die Folter, wurde dieser doch grundlos verhaftet und in ein Lager gesteckt – kein einziges Lebenszeichen von ihm hat sie seitdem erreicht. Ist er verstorben oder noch am Leben? »Was ist es gewesen? Das Herz klopft im Hals, in den Ohren, in den Schläfen, sein heißes Pochen füllt die ganze Brust aus und, wie mir scheint, das ganze Zimmer. Wahrscheinlich habe ich wieder Aljoschas Tod gesehen. Welchen eigentlich? Welchen? Unterwegs? Im Lager? Beim Verhör? Ich weiß nichts über seinen Tod, und deshalb kann meine Phantasie mit jedem etwas anfangen.«

In diesem Erholungsheim stößt sie allerdings immer mehr auf Opfer und Täter, die 1949 einige tiefe Narben besitzen oder Teil des stalinistischen Systems sind. Auf Schriftsteller Biblin, der das Arbeitslager überlebte, ihr davon als Erster berichtet, zu dem sie eine besondere Beziehung aufbaut und der sie am Ende allerdings bitter enttäuscht, weil er in seinem verfassten Roman nicht die Wahrheit aussprechen möchte. Auf Redakteure, die für die Propaganda verantwortlich sind. Auf einen Juden, dessen Kinder verbrannt wurden. Auf Antisemitismus.

»Untertauchen« ist im Stile eines Tagebuchs angefertigt, das lose Notizen zum Sanatorium-Aufenthalt enthält. Die Figur Nina betrachtet den Totalitarismus kritisch, distanziert und gefährdet sich damit aufgrund ihrer kundgetanen Meinung häufig selbst, kommt es doch sogar hier zu heimlichen, nächtlichen Verhaftungen. Nina trägt das Herz auf der Zunge, missachtet dabei die Regeln, in dem sie ihren Unmut über die mediale Propaganda, den Umgang mit Unschuldigen und Autoren öffentlich äußert – ein Drahtseilakt.

Immer wieder rückt auch die Poesie in den Fokus. Bei regelmäßigen Spaziergängen rezitiert sie ihre liebsten Dichter, verteidigt u.a. Boris Pasternak. Auch Tschukowskajas Sprache prägen schöne poetische Bilder, im Gegenzug lassen sich aber auch grausame Szenen finden. Zum Beispiel wird eine Frau beschreiben, die beim Amt auf Informationen über ihren deportierten Mann hofft. Mit aller Macht will sie den Platz in der Schlange verteidigen, ungeachtet dessen dass der Säugling auf ihrem Arm in der Kälte erfriert.

Auffällig oft kreuzen sich angesichts der Biografie die Wege von Lydia Tschukowskaja und Nina Sergejewna. Tschukowskaja wurde wie ihrem Alter Ego der Angetraute genommen, außerdem liebe sie die Lyrik, war mit Anna Achmatowa befreundet. Aus dem sowjetischen Schriftstellerverband wurde sie 1977 geworfen, sodass »Untertauchen« erst im Zuge der Perestroika 1988 veröffentlicht werden durfte. Hätte Sergejewna ebenfalls weiter an ihrer politischen Überzeugung demonstrativ festgehalten, wäre ihr Ähnliches geschehen.

Dieses wiederentdeckte »Untertauchen« ist ein mächtiges Büchlein, das manches Mal unscharf wirkt, wie wenn du die Augen unter Wasser öffnest, dann aber auch evident. Vieles bleibt unausgesprochen, Tschukowskajas Zweck erfüllt sich jedoch ohne Zweifel. »Alles Lebendige sucht Brüderschaft, und auch ich suche sie. Ich schreibe ein Buch, um Brüder zu finden – und sei es erst dort, in der unbekannten Ferne.«

[Buchinformationen: Tschukowskaja, Lydia (Januar 2015): Untertauchen. Dörlemann Verlag. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Titel der Originalausgabe: Спуск под воду (1988). ISBN: 9783038200130]

[Weitere Besprechungen bei Buchpost, Klappentexterin, masuko13 und Monalisablog.]

10 thoughts on “Lydia Tschukowskaja – Untertauchen

  1. Pingback: Lydia Tschukowskaja: Untertauchen (1975) | buchpost

  2. Abgesehen von dem Roman muss die Übersetzerin erwähnt werden. Swetlana Geier ist schon DIE deutsche Stimme für Dostojewski, sodass ich mir auch hierbei den Text vorstellen kann. Außerdem gibt es ein ganz tolles, filmisches Portrait von ihr, das ich sehr empfehlen kann.

  3. Vielen Dank für diesen interessanten Lesetipp. Ich halte auch immer mal Ausschau nach Perlen abseits der Bestsellerlisten. Poesie und Natur – das ist eine wunderbare Kombination, der verheerende Stalinismus bildet dann den Schatten. Du machst mich neugierig.

    • Liebe Constanze,

      hierbei handelt es sich ohne Zweifel um eine Perle abseits der Bestsellerlisten, die du entdecken solltest. Die vielen positiven Resümees der Blogger-Kollegen unterstützen meine Meinung. Find ich immer wieder gut, was der Dörlemann Verlag so ausgräbt und welche Qualität diese Bücher vorweisen. Von „Das verlorene Wochenende“, im vergangenen Herbst erschienen, war ich schon unheimlich begeistert. Ein Verlag, den ich mittlerweile auf dem Zettel ganz weit oben stehen habe.

      Beste Grüße
      Muromez

  4. Pingback: Alexander Nitzberg im Interview | Muromez

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