Viktorija Tokarjewa – Eine von vielen

Vom Tellerwäscher zum Millionär, Scheine statt Essensreste … der Standardtraum vom sozialen Aufstieg. In den Geschichten von Viktorija Tokarjewa sind die Figuren aber noch nicht mal für das Geschirr verantwortlich, sondern hüten Kühe und träumen dabei vom roten Teppich in der Großstadt. Es ist Tokarjewas Spezialität, Charaktere aus der Provinz direkt ins Zentrum des Kapitalismus umzutopfen, die hinterher schmerzlich erfahren müssen, dass der Glanz tückisch ist und die sich am Ende meist zurückbesinnen. Auch der Roman »Eine von vielen« knüpft da an, ausgestattet mit einer flotten Sprache, schildert er eine typische Aschenputtel-Story mit viel Herz.

Auch Beauté Angela möchte gerne im Scheinwerferlicht stehen, singen und so schnell wie möglich den Berg erklingen, zum »Schnee des Kilimandscharo« gelangen.Viktorija Tokarjewa - Eine von vielen Vom gefühlten 200-Seelen-Dorf Martynowka macht sie sich auf nach Moskau. Hoffnungsvoll, um eine Karriere als Musikerin zu beginnen. Selbstverständlich wartet dort niemand auf solch ein Landei, doch mit ihrem Charme und ihrer Liebenswürdigkeit findet Angela schnell Anschluss in der Metropole. Schließlich kann sie kochen und putzen, Eigenschaften einer Hausfrau, die dort auszusterben drohen. Sie heuert bei unterschiedlichen Leuten an, Millionären, einer Kulturschaffenden und einem Komponisten, um Geld für ihren ersten aufgenommenen Song zu sammeln, der ihr zum Durchbruch verhelfen soll. Es liegt auf der Hand, dass Angela sich etwas zu blauäugig anstellt. »Keine Noten, ohne Banknoten«, heißt der Leitsatz, sobald sie an der Tür der Produzenten klopft. Auch kommt es beim Vorsingen zu merkwürdigen Situationen:

Angela vergaß plötzlich den Text und schwieg einen Moment. Dann fiel es ihr wieder ein: »Denn du wirst kommen, ganz unerwartet …« Das reicht, sagte der Maestro. »Zieh dich aus.« »Wieso?«, fragte Angela verständnislos. »Schon gut. Stass erklär’s ihr«. Stass trat wieder herbei. Er roch gut, und er sah sie freundlich an. »Das war bloß ein Test«, erklärte Stass. »Der Maestro teil die Mädchen in drei Kategorien ein: die Normalen, die Dummchen und die Nutten. Wenn man vorschlägt, sie sollen sich ausziehen, dann fangen die Dummchen an zu weinen, die Nutten ziehen sich kommentarlos aus, und die Normalen fragen: ›Wieso?‹ Sie gehören zu den Normalen. Das ist gut.« (S. 33)

Als Dienstmädchen muss Angela aber erkennen, dass Geld alleine nicht glücklich macht. Sie sieht einem reichen Ehepaar zu, wie es sich immer mehr entfremdet und unglücklicher wird, bis der Mann, Nikolaj, sich in Angela verliebt und sie zu seiner Mätresse macht. Wahre Liebe ist es für Angela nicht, obwohl sie sich plötzlich alles leisten kann und mit Geschenken überhäuft wird. Stattdessen verguckt sie sich in einen anderen, einen Künstler, der sie letzten Endes selbst ausnimmt.

In Tokarjewas Roman werden besonders die krassen Gegensätze der Parallelwelten deutlich. Die Unschuld und Naivität aus der Fremde und gleichzeitig Steinzeit, die immer noch an das Gute im Menschen glaubt – verkörpert durch Angela – auf der einen Seite. Auf der anderen das Oberflächliche und Materielle, das auch nicht immer Freude bringt und von Sorgen befreit. Dabei strebt Angela nicht gerade den typischen Weg an: Reichen Mann finden, ihn heiraten, von ihm Kinder bekommen und damit ausgesorgt haben. Stattdessen möchte sie es alleine schaffen, durch Fleiß groß herauskommen, nur ist das aus eigenem Willen aufgrund gleich mehrerer Faktoren nicht einfach so möglich.

»Eine von vielen« ist ein typisches Flutschbuch (danke an Sätze&Schätze für den passenden Neologismus), leicht und locker sowie dialoglastig geschrieben und mit viel Witz. Nette kleine Stories und Charakterstudien runden den schmalen Roman ab, der weicher Butter gleicht. Ein erfrischender Lesespaß, wenn auch keine große Literatur.

[Buchinformationen: Tokarjewa, Viktorija (November 2014): Eine von vielen. Diogenes Verlag. Aus dem Russischen von Angelika Schneider. Titel der Originalausgabe: Одна из многих (2007). ISBN: 978-3-257-60442-9]

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