Primo Levi – Ist das ein Mensch?

Primo Levi - Ist das ein MenschDer Chemiker, italienische Jude und Schriftsteller Primo Levi (1919 – †1987) oder Häftling 174517 hat ein Jahr das KZ Auschwitz III Monowitz überlebt. Erste Aufzeichnungen für »Ist das ein Mensch?« ließ er – selbstverständlich verboten – im Lager nieder. Die Intention des Werks soll allerdings keineswegs als Anklage gegen die Deutschen verstanden werden. Der Autor versteht das Schrecken des Dritten Reiches vielmehr, als ein »einzigartiges, exemplarisches, symbolisches Geschehen« anzuerkennen. Weiter fügt er im Nachwort an, dass »die Vorankündigung einer noch größeren Katastrophe, die über der ganzen Menschheit schwebt und nur dann abgewendet werden kann, wenn wir alle es wirklich fortbringen, Vergangenes zu begreifen, Drohendes zu bannen.« Eine Art Prophylaxe also… »Ist das ein Mensch?« erschien erstmals 1947 in Italien – Levi verfasste es wenige Monate später nach seiner Befreiung – längst trägt es das Prädikat Weltliteratur.

Der 24jährige Levi, Teil einer italienischen Partisanengruppe, wird verhaftet und nach einem Zwischenhalt 1944 in Richtung Auschwitz deportiert. Er beschreibt die Abschiedsszene davor, wie Mütter ihre Kinder zurechtmachen. Bereits an diesem Punkt sind sich alle sicher, dass es kein Zurück mehr geben wird. Die Fahrt nur den Tod mit sich bringen kann.

Alle erfahren früher oder später in ihrem Leben, daß ein vollkommenes Glück nicht zu verwirklichen ist, doch nur wenige stellen auch die umgekehrte Überlegung an: daß es sich mit dem vollkommenen Unglück geradeso verhält. Die Momente, die sich der Verwirklichung beider Grenzfälle widersetzen, sind gleicher Natur, sie gehen aus unserem Menschsein hervor, das allem Unendlichen abhold ist. So widersetzt sich dieser Verwirklichung unsere stets unzulängliche Kenntnis der Zukunft, die zum einen Hoffnung und zum anderen Ungewißheit des Morgens heißt. Es widersetzt sich ihr die Sicherheit des Todes die jeder Freude, aber auch jedem Schmerz eine Grenze setzt. Es widersetzen sich ihr die unvermeidlichen materiellen Beläge, die, wie sie jedes dauernde Glück untergraben, so auch beharrlich unser Augenmerk von dem auf uns lastenden Unglück abwenden und seine Wahrnehmung fragmentarisch und darum erträglich gestalten. (S. 15)

Von nun an heißt es, dass Glück und Unglück inexistent sind. Der Schmerz wird anders empfunden bis hin zu einem Antlitz ohne Empathie. Die Enttäuschung kann nicht allzu groß sein, weil ebenfalls der letzte Strohhalm nicht zu fassen ist und die Hoffnung abnimmt. Stattdessen manifestiert sich die unmittelbare Omnipräsenz des Todes. Mit einer Feder streichelt der Tod die Häftlinge vorab. Stellt sie vor einen tiefen Abgrund, wo der Schritt in die Unendlichkeit kleiner nicht sein kann. Es geht bergab. Bergab zum Vorhof der Hölle.

Apokalyptischer hat sich Levi anfangs das Lager vorgestellt. Der Zufall entscheidet, ob man sich im Kamin auflöst oder weiter Atmen darf. Doch bald wird schnell demonstriert, was die grell leuchtende Schrift »Arbeit macht frei« mit sich trägt. Levi beschreibt das streng durchdachte Lager anfangs als etwas Künstliches, einem Schauspiel voller Theatralik gleichend. Das Schören der Körperbeharrung, die »Taufe« durch die Tätowierung, Hunger und Durst, die Verbote, die genaue Strukturiertheit – das alles gleicht etwas Unvermittelbaren, wenn man es nicht selbst erlebt hat.

Da merken wir zum erstenmal, daß unsere Sprache keine Worte hat, diese Schmach zu äußern, dies Vernichten eines Menschen. In einem einzigen Augenblick und fast mit prophetischer Schau enthüllt sich uns die Wahrheit: Wir sind in der Tiefe angekommen. Noch tiefer geht es nicht; ein noch erbärmlicheres Menschendasein gibt es nicht, ist nicht mehr denkbar. (S. 24)

Langsam zeichnen sich die zwei Phasen des Todes ab: die psychische und die physische. Mit einer im Kontext eingeordneten Naivität stellt Levi die Frage, ob er wenigstens seine Zahnbürste zurückbekommen würde. Fix lernt Levi sich dann einzuordnen in das Geschehen. Dass es nur einen Rhythmus gibt: arbeiten, schlafen, ein wenig essen, krank, gesund werden oder sterben. Nichts anderes! Levi durchschaut das Ökonomische im Lager, in dem Brotrationen als Zahlungsmittel gelten. Oder anders ausgedrückt, der Handel mit Brot ein Handel mit Leben ist.

In der Paradoxie des Krankenbaus, in dem er sich auskurieren darf, stellt er fest, dass es bei keiner Zerschlagung des Nationalsozialismus auch keine Hintertür für Freiheit geben kann. »Wir werden nicht zurückkehren. Von hier darf keiner fort, denn er könnte mit dem ins Fleisch geprägten Mal auch die böse Kunde in die Welt tragen, was in Auschwitz Menschen aus Menschen zu machen gewagt haben.« Es wird nur von Tag zu Tag gedacht, eine andere Alternative erlaubt sich nicht.

Außergewöhnliche Aussagen tätigt Levi, indem er das Lager als eine »riesige biologische und soziale Erfahrung« deutet. Wie Menschen instinktiv, insofern sie noch dazu fähig sind, um ihr Leben kämpfen. Wie Egoismus sich ausbreitet. Was passiert, wenn Individuen Macht zugesprochen wird oder sie untergehen.

In der Geschichte wie im Leben scheint bisweilen ein grausames Gesetz erkennbar zu sein, das heißt: »Wer da hat, dem wird gegeben, wer aber nicht hat, dem wird alles genommen.« Im Lager, wo der Mensch allein auf sich gestellt und der Lebenskampf auf seine Urform reduziert ist, gilt dieses ungerechte Gesetz in aller Offenheit und wird allgemein anerkannt. Mit dem Erprobten, also den starken und gerissenen Individuen, unterhalten selbst die Kapos gern Beziehungen, die sogar kameradschaftlich sind, weil sie hoffen, vielleicht später einmal irgendwelche Nutzen daraus ziehen zu können. An die Muselmänner hingegen, die Menschen in Auflösung, verlohnt sich nicht, ein Wort zu richten, weiß man doch schon im voraus, daß sie lamentieren würden und aufzählen, was sie daheim zu essen pflegten. (S. 85)

Es gilt, sich im Lager gewisse Positionen anzueignen wie des einen »Prominenten«. Diese sind angesehen, können Dinger drehen, Gegenstände tauschen und verschaffen sich Respekt. Will heißen, sie entgehen den Selektionen dank ihres Status. Levi schafft es dank seines Wissens, in Italien war er Doktor der Chemie, eine Stelle im Warmen zu bekommen. Dort sind die Essensrationen größer und das Schinden kleiner. Aus diesem Labor lässt Levi ebenso Sachen mit sich gehen, die ihm beim Überleben hilfreich sind.

Kurz vor der Befreiung der Roten Armee verfällt Levi in eine Krankheit und findet sich im Krankenbau wieder. Einerseits könnte er sich im Nachhinein glücklich schätzen, auf keinen der Todesmärsche geschickt worden zu sein. Andererseits lässt sein schwacher Körper kaum zu, aufzustehen und sich Nahrung zu organisieren. Dank zweier Franzosen, die in seinem Zimmer liegen, rappelt er sich so gut es geht auf und verlässt schließlich das Lager als freier Mann mit der Beantwortung, was ein Mensch sei.

Mensch ist, wer tötet, Mensch ist, wer Unrecht zufügt oder erleidet; kein Mensch ist, wer jede Zurückhaltung verloren hat und sein Bett mit einem Leichnam teilt. Und wer darauf gewartet hat, bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter entfernt als der roheste Pygmäe und der grausamste Sadist. (S. 164)

Primo Levi stürzte am 11. April 1987 im Treppenhaus seines Hauses und starb. Eine Nachwirkung seines KZ-Aufenthalts? Ein Selbstmord? Erwiesen ist nichts, dokumentiert allerdings, dass Levis Werke über den Holocaust großen Anklang fanden, wenn man davon überhaupt sprechen darf. Er galt als einer der ersten Kreativen und Überlebenden, die derartig kurz nach Kriegsende Eindrücke aus dem KZ festhielten.

Genau das könnte mein Problem gewesen sein. Denn wer sich schon querbeet durch Auschwitz-Beschreibungen gelesen hat, wird an einigen Stellen Levis kaum Neues herausfiltern. Was an dieser Stelle kein Vorwurf sein soll, stattdessen zieht es Bedenken mit sich, dass ich das Werk nicht in den zeitlichen Kontext einordnen kann. Es mir also Schwierigkeiten bereitet, nachzuvollziehen, welche Wirkungen es hatte, als es kurz nach dem 2. Weltkrieg veröffentlicht wurde.

»Ist das ein Mensch?« samt der logischen Schlüsse, den akkuraten, neutralen Beobachtungen und einem »Nichtangriffspakt« sucht in seiner Art Sondergleichen, Mit Verweisen auf die Bibel, Dante, Friedrich Nietzsche hat Primo Levi selbstredend mit seinem einzigartigen Debüt etwas Wertbeständiges geschaffen. Gleichzeitig etwas Heilsames hervorgebracht.

[Buchinformationen: Levi, Primo (2012): Ist das ein Mensch?. 3. Auflage. dtv. Aus dem Italienischen von Heinz Riedt. 176 Seiten, ISBN 978-3-423-12395-2]

1 thoughts on “Primo Levi – Ist das ein Mensch?

  1. Primo Levis Werk hat mich sehr beeindruckt, es war eines der ersten, die ich zum Thema gelesen habe, weshalb mein Fazit genau entgegengesetzt zu deinem ausfällt. Ist das ein Mensch? ist für mich so etwas wie der ‚Prototyp‘, an dem sich alle anderen messen müssen. Bücher, die ich später gelesen habe, müssen der Frage standhalten: Erzählen sie etwas Neues? Bzw. erzählen sie das Bekannte auf eine neuartige Weise? Kürzlich habe ich zum Beispiel die Autobiographie des Italieners Samy Modiano (noch nicht ins Deutsche übertragen) gelesen: zweifelsohne ein interessantes Werk, das seine Berechtigung hat wie jedes Zeugnis, das zur Erinnerung beiträgt. Aber aus literarischer Sicht birgt es eben wenig Neues, wenn man die Klassiker (Levi, Wiesel, Kertész, Semprún…) bereits kennt.
    Ganz davon abgesehen erwähnst du ja selbst, dass Levis Bericht einer der ersten ist, die erschienen sind, er ist einer der Ersten, die die Frage nach dem Menschsein bei aller Unmenschlichkeit stellen. Und zwar auf eine sehr eindringliche Weise.

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