Arthur Schnitzler – Traumnovelle

Arthur Schnitzler – TraumnovelleArthur Schnitzler zählt zu den bedeutendsten Autoren der Wiener Moderne. Er gehörte zur literarischen Gruppe »Jung-Wien«, die sich intensiv mit der menschlichen Psyche und deren Abgründe beschäftigte. So galt der größte Fokus der Gruppe der Innenwelt eines Menschen. Sein Werk die »Traumnovelle« schrieb er in den Jahren 1920-1924. Umrisse der Erzählung und Ideen entwickelte er aber bereits früher (1907).

Das Werk wurde erstmals 1925-1926 serienhaft in Paul Wieglers Modezeitschrift »Die Dame« abgedruckt. Die Buchausgabe des Fischer-Verlags wurde 1996 veröffentlicht. Schnitzler betonte, dass der Entstehungsprozess der Erzählung ein problematischer war. Er deutete darauf hin, Überlegungen gehabt zu haben, sein Werk zwischenzeitlich sogar komplett zu verwerfen, weil der Schluss ihn nicht zufriedenstellte. Ferner ist nicht von der Hand zu weisen, dass Schnitzler in seinem Wiener Arzt-Kollegen und Psychoanalytiker Sigmund Freud Inspiration fand. Dieser deutete Träume und resümierte, dass Sexualwünsche für die Bildung der Träume eine Rolle spielen würden. Träume, in denen der explizite Wunsch nach Sexualität geschildert wird, finden sich auch in der »Traumnovelle« wieder. Außerdem wurde dokumentiert, dass Schnitzler und Freud sich in 1920er-Jahren trafen und sich infolgedessen auch über den Inhalt der »Traumnovelle« unterhielten.

Die »Traumnovelle« ist eines der Schnitzler-Werke, über das am meisten diskutiert wurde und taucht auch in Auflistungen auf, die Schnitzlers literarische Höhepunkte beschreiben. Eine Verfilmung der Erzählung plante der österreichische Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst im Jahre 1930. Das Projekt wurde jedoch nicht verwirklicht. Fast 70 Jahre später war es dann der amerikanische Regisseur Stanley Kubrick, der die »Traumnovelle« unter dem Titel »Eyes Wide Shut« visuell inszenierte – es war gleichzeitig sein letzter Film vor seinem Ableben. Die Hauptrollen wurden mit den Hollywood-Größen Nicole Kidman und Tom Cruise besetzt. Der Film erntete allerdings nicht nur Lob, sondern wurde auch reichlich mit Kritik konfrontiert, da Schnitzlers Darstellung psychischer Vorgänge größtenteils außer Acht gelassen wurde.

Denn das wesentliche Ziel der Erzählung ist die Gegenüberstellung bzw. das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit, die ein Ehepaar (Arzt Fridolin und Gattin Albertine) durchleben. Auf dem ersten Blick wirken beide glücklich zusammen, so entwickelt sich im Laufe des Werks ein Schwebezustand aus Abenteuern und Ehe, wodurch die Beziehung der Beiden auf die Probe gestellt wird. Sowohl Fridolins als auch die Gedanken seiner Frau Albertine liegen eng beisammen und sind mit dem Wunsch nach verbotenen, erotischen Seitensprüngen verbunden. Während Albertine davon träumt – lediglich am Anfang erzählt sie ihrem Mann davon, dass sie auf einer gemeinsamen Reise nach Dänemark an einem anderen Mann interessiert war – erlebt Fridolin diese intensiven Bedürfnisse in unterschiedlichen Facetten in der Realität.

In meinem Essay möchte ich eingangs das Verhalten von Fridolin analysieren, danach auf den Traum von Albertine eingehen. Anschließend möchte ich den Bezug herstellen, welche Verbindung es zwischen dem Traum und Fridolins Abenteuern gibt und inwiefern sie komplementär sind.

Fridolins Abenteuer

Als Fridolin unterrichtet wird, dass sein Patient, der Hofrat, einen Herzinfarkt erlitt, bricht er auf, um nach dem Rechten zu sehen. Dem Hofrat kann er allerdings nicht mehr helfen, da dieser den Schlag nicht überlebt hat. Für Marianne, der Tochter des Hofrats, die ihn auf dem Weg des Lebensendes begleitet, hat Fridolin keine tröstenden Wörter parat und wickelt den Fall, indem er den Totenschein ausfüllt, bürokratisch und pflichtgemäß ab. Erst als diese ihm erotische Andeutungen macht, ihre Liebe gesteht, scheint er interessiert daran zu sein, ihr Mitleid zu spenden und sie aufzumuntern. Noch denkt er nicht an den Gedanken, seine Frau betrügen zu wollen. Dennoch merkt man ihm an, dass er sich nicht damit einverstanden gibt, wenn seine Frau (wie in der Einleitung erwähnt) womöglich andere Männer in Betracht zieht.

Anders ist es, als er in der gleichen Nacht der Dirne Mizzi begegnet. Er kann es sich nicht erklären, warum er ihr Angebot annimmt und mit ihr mitgeht. Anfangs hält er sich zurück und doch ergreift ihn im Nachhinein eine Erregung. Doch die Prostituierte zieht zurück, weil sie merkt, dass er Gewissenbisse aufgrund ihrer Hygiene hat und nicht von irgendwelchen Krankheiten angesteckt werden möchte. Wie im weiteren Verlauf mehrmals bemerkbar, zeigt Fridolin auch hier Interesse an dem Unbekannten und Gefährlichen.

Weiterhin will Fridolin nicht nach Hause zurückkehren. Dafür fühlt er sich nach dem Gespräch mit seiner Frau abgestoßen. Stattdessen driftet er ferner in eine Art Unterwelt ab. Er löst sich von allen Konventionen und geht in ein Kaffeehaus niedrigen Ranges – ein Besuch eines Doktors darin wäre seiner sozialen Stellung nicht würdig. Dort trifft er auf einen alten Studienkollegen namens Nachtigall, der Klavier spielt und bemerkt, dass dieser durch seine Berichte jeglichen Bezug zur bürgerlichen Welt verloren hat, die aus Ehe- und Vaterschaftspflichten besteht. Nachtigall erzählt ihm, dass er regelmäßig bei einer geheimen Gesellschaft spielt und entlohnt wird. Er gibt Auskunft darüber, dass sich dort Orgien abspielen. Fridolin überredet Nachtigall ihn mitzunehmen und dieser gibt ihm einen geheimen Code preis, womit im der Eingang ermöglicht wird. Die Vorstellung am Unbekannten und am Teilnehmen an der geheimen Gesellschaft löst bei Fridolin Erregung sowie Neugier aus.

Bevor er allerdings zur geheimen Gesellschaft fährt, muss er sich ein Kostüm besorgen, denn alle Mitglieder der Gesellschaft sind maskiert und verkleidet. Beim Maskenverleiher Gibsier, der ihn in der Nacht noch bedient, wird Fridolins Körper erneut Erregung ausgesetzt. Beim Auswählen einer Kutte stoßen sie auf Gibsiers Tochter, die ein intimes Maskenfest mit zwei Männern veranstaltet. Diese strahlt auf Fridolin erotische Anziehungskraft aus.

Am Ort des Geschehens angekommen, nimmt Fridolin nicht an der Massenorgie teil und zögert, wodurch er erkannt und schließlich ausgeschlossen wird. Dennoch verliebt er sich in eine Teilnehmerin, die wie die anderen ihr Gesicht mit einer Maske verdeckt, ihn warnt die Gesellschaft zu verlassen und als einzige der geheimen Gesellschaft eine individuelle Beziehung zu ihm herstellt. Er ist jedoch geblendet von der wollüstigen Atomsphäre, die sich vor seinen Augen abspielt. Folglich wird er aber umringt von Mitgliedern der Gesellschaft, die ihn auffordern seine Maske abzuziehen. Er weigert sich. Lediglich durch die Frau, die ihn gewarnt hatte, kann er sich aus der prekären Situation lösen. Sie erklärt sich bereit, für ihn zu büßen. Fridolin wird plötzlich klar, dass die Frau für ihn ihren Tribut zollen muss und sich opferte. Er versucht sie aus der Gesellschaft zu entlocken, wird aber nur ohne jegliche Chance gewaltsam entfernt. Dadurch wird er aus seinen erotischen Phantasien herausgerissen und mit dem Ernst der Realität konfrontiert.

Albertines Traum

Zurück zu Hause angekommen, findet er seine schlafende Frau vor, die schrille Lacher von sich gibt. Nachdem sie aufwacht, bittet Fridolin sie, ihren Traum zu erklären: Albertine träumte davon, wie sie sich mit Fridolin im Wald liebte. Am nächsten Morgen jedoch sind ihre Kleider weg, sie schämt sich dafür und beauftragt Fridolin, ihr welche in der Stadt zu besorgen. Dieser macht sich auf dem Weg und findet auch welche für sie, allerdings wird er konfrontiert mit einem Geheul einer unsichtbaren Menschenmenge. In dieser Zeit vergnügt sich Albertine mit einem anderen Mann.

Albertine, die in ihrem Traum jegliches Gefühl für Raum und Zeit verliert, ist danach orientierungslos umgrenzt von vielen anderen nackten, sich liebenden Paaren. Zeitgleich sieht sie wie Fridolin sich in Gefahr befindet. Nackt in einem Burghof stehend, wird ihm die Todesstrafe erteilt. Nur wenn er sich zum Geliebten der Fürstin des Landes einverstanden gibt, kann er sich seinem Schicksal entziehen. Doch er weigert sich und wird dafür ausgepeitscht, während Albertine regungslos ohne Mitleidsgefühle zuschaut. Des Weiteren soll er auf der Wiese, auf der Albertine ihre Orgie feiert, gekreuzigt werden. Sie kümmert sich aber nicht um ihn, stattdessen kennt sie nur Spott für ihn, da er ihr Treue schwor und das Angebot der Fürstin ausschlug.

Albertines Traum macht Fridolin deutlich, dass sie nicht nur daran interessiert ist, ihre Rolle als Hausfrau und Mutter auf der Grundlage gesellschaftlicher Normen durchgängig zu spielen. Der Traum erklärt, dass sie ihre erotischen Wünsche in der Beziehung unterordnen muss. Außerdem zeigt sie ihm dadurch auf, dass sie durch ihren sozialen Status auf Triebbefriedigung verzichten soll, indem sie beschreibt, wie sie Befriedigung bei anderen Männern sucht, anstatt ihrem gefesselten Ehemann zu helfen. Der Ausbruch sich von Fridolin zu lösen, gibt ihr das Gefühl der Befreiung und Entgrenzung. Als Fridolin im Traum öffentlich hingerichtet werden soll, wird der Bruch der Beziehung abgezeichnet.

Zwischen Traum und Wirklichkeit

Anfangs hat man als Rezipient das Gefühl, dass beide Eheleute eine starke Ausgeglichenheit und Symmetrie verbindet. Davon ist bei näherem Betrachten allerdings wenig zu sehen, da Fridolin nicht akzeptieren kann, dass seine Frau dieselben Ansprüche nimmt wie er. Als Albertine ihm ihren Traum »beichtet«, sind deutlich Empörung und Rachegelüste bei Fridolin zu spüren, der seine Frau eigentlich auf der passiven Seite der Beziehung sieht. Schließlich steht sie nur dafür da, seine Wünsche und Bedürfnisse ausnahmslos zu erfüllen.

Im Gegensatz zu Fridolin, der die Massenorgie ablehnt, empfindet Albertine sie als beglückend. Dennoch machen beide Partner ähnliche Erfahrungen: Sie werden mit der erotischen Versuchung konfrontiert und erliegen ihr in einer gewissen Weise. Fridolin aber bekommt keine Befriedigung, wie es Albertine in ihrem Traum erlebt, sondern macht bei der geheimen Gesellschaft Erfahrung damit, wie es ist, wenn Lust und Qual ineinander verschmelzen. Das ist auch der Zweck der Veranstaltung, denn in der Erzählung wird erklärt, dass es keine gemeinsamen Räume für die Paare gibt, um den Akt auszuüben.

Die Parallelen zwischen den nächtlichen Erlebnissen, die Fridolin wiederfuhren, und Albertines Traum akzentuieren die Unvereinbarkeit und Verschiedenartigkeit der Wünsche. Während Albertine ihren Traum erzählt, beschließt Fridolin unmittelbar Vergeltung zu üben. Er merkt, dass ihm seine Dominanz gegenüber der Ehefrau abgleitet und projiziert den Traum in die Wirklichkeit – beleidigt und gekränkt ordnet er diesen als Machtverlust ein. Fridolin nimmt ihren Traum ernster als die Wirklichkeit.

Das entwickelt sich sogar bis hin zu Hass und er gesteht sich, dass er seine Frau aufgrund des Traums nicht mehr lieben kann. Mit der Zeit stellt er allerdings fest, dass auch er nicht vollkommen unschuldig ist und kann zwischen Realität und Wirklichkeit unterscheiden. So entschließt er sich seiner Frau von seinen Erlebnissen zu berichten, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. In einem klärenden Gespräch nimmt Albertine die Position des ruhenden Pols ein, vergleicht die beiden Erlebnissphären und entscheidet sich, dass sie dem Schicksal dankbar sein sollten, da sie aus allen Abenteuern heil davongekommen sind. Sie verzeiht ihrem Mann. Demnach zeichnet sich am Ende eine neue Ebene der Vertrautheit ab. Es ist ein Akt des gegenseitigens Verzeihens und nur weil beide ihr Opfer bringen – immerhin setzen sie in ihren Beichten voraus, dass der andere möglicherweise verletzt wird – kann man von einer wiederhergestellten Ordnung sprechen.

Sowohl Albertines Traum als auch die Erlebnisse Fridolins weisen Parallelen auf. Beide sehnen sich nach der vollen Befriedigung ihrer Lust. In beiden Ereignissen kommen die Komponenten »Sex, Tod und sadistische Grausamkeit« vor. Auch Fridolin begegnet dem Tod, ihm wird klar, dass die Frau, die sich bei der geheimen Gesellschaft für ihn einsetzte, das mit ihrem Leben bezahlen musste.

[Anmerkung: Nachdem Phileablog dieses Werk empfohlen hatte, fiel mir ein, dass ich irgendwo noch eine alte Seminararbeit aus dem BA-Studium dazu auf der Festplatte verstauben lasse. Nachbetrachtend zwar eher kein richtiger Essay, aber bevor dieses Etwas verschimmelt…]

3 thoughts on “Arthur Schnitzler – Traumnovelle

  1. Sehr sexy, sehr düster, sehr schön, dass jemand dies mal wieder liest, es ist länger her bei mir, aber unvergessen … Kennst du den Film „Eyes Wide Shut“ dazu? Schön umgesetzt, finde ich …

      • Tauglich, sofern ich mich richtig erinnere. Hab ihn gar vor der literarischen Grundlage rezipiert.

        Natürlich spielt er ebenso mit dem Skandalösen, Pornografischen, wenn Hollywood-Größen blank ziehen. Nur gänzlich anders ging es bei einer solchen Verfilmung auch nicht 😉

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